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Das Modell Sexocorporel: Wie ein körperorientiertes Sexual­modell Lust neu begreift – und warum wir es im 21. Jahrhundert weiterdenken müssen


1  Vom Kopf in den Körper: Eine Einladung zum Sexocorporel


Leistungsdruck, Orgasmus‐Checklisten und „perfekte“ Techniken – all das hat Sexualität in vielen Köpfen zu einem Projekt gemacht, das man erreichen muss. Der Sexocorporel dreht den Spiess um: Er rückt den Erlebensraum Körper ins Zentrum – mit seiner Atmung, seiner Muskelspannung, seinem Rhythmus. Statt zu fragen „Funktioniere ich richtig?“ lädt das Modell dazu ein, wahrzunehmen „Wie fühlt sich meine Erregung gerade an, wo im Körper bewegt sie sich, was braucht sie?“


Damit öffnet der Sexocorporel einen klaren Lernweg: Wer Erregung nicht nur aushält, sondern sie über bewusste Bewegung, Tonus-Regulation und sinnliche Aufmerksamkeit steuern kann, erlebt Lust intensiver und vielfältiger. Das ist kein esoterischer Zauber, sondern ein körper­psychologisches Handwerks­zeug, das Prof. Jean-Yves Desjardins in den 1970er-Jahren aus klinischer Beobachtung entwickelte und das bis heute konsequent weiter­geforscht wird. 


Der Sexocorporel verlegt das Spielfeld von der Bettkante zurück unter die Haut – dorthin, wo Lust tatsächlich entsteht.


2 Die Grundidee: Hirn–Körper als untrennbare Einheit


Begründer Jean-Yves Desjardins stellte schon in den 1970ern klar, dass Psyche und Körper zwei Seiten derselben Medaille sind. Anstatt Sexual­­probleme primär als Spiegel „tiefer Konflikte“ zu pathologisieren, untersucht der Sexocorporel die direkten körperlichen Lern­schritte, die Lust ermöglichen oder blockieren. Er gliedert die Sexualität dafür in vier miteinander verwobene Bereiche:


  1. Physiologische Komponenten (z. B. Erregungsfunktion, Sinnes­empfindungen)

  2. Sexodynamische Komponenten (Lustfunktion, sexuelles Begehren, Gefühl der Geschlechts­zugehörigkeit)

  3. Kognitive Komponenten (Wissen, Normen, Werte)

  4. Beziehungs­komponenten (Verführung, Kommunikation, Bindung) 



Dieses Raster liefert Therapeut*innen ein klares Diagnostik­instrument, ohne Menschen in „normal“ und „gestört“ einzuteilen. Grenzen gelten hier nicht als Mangel, sondern als Startpunkt neuer sexueller Lernwege. 



3 Erregungsfunktion: Spielraum statt Punktlandung


Kern des Modells ist die Erregungsfunktion – ein Zusammenspiel aus reflex­haften Körper­prozessen und bewusst erlern­baren Fähigkeiten wie Atmung, Muskeltonus oder Bewegung. Zwischen Erregungsbeginn und Orgasmus liegt ein „bewohnbarer Raum“, in dem wir Spannung dosieren und Lust steigern können. 


Desjardins beschreibt fünf typische Erregungsmodi:

Modus

Typische Strategie

Chancen

Grenzen

AM archaisch

Pressen/Drücken (z. B. Schenkel­pressen)

schnelle Entladung

wenig Lust­vielfalt, Schmerzen möglich 

MM mechanisch

Reiben mit hohem Rhythmus

kontrollierbar

Muskelstarre, Koitus oft unbefriedigend 

AMM archaisch-mechanisch

Druck + Reibung (z. B. Vibrator)

intensive Stimulation

ähnl. Grenzen wie AM

OM ondulierend

fliessende Ganzkörper­bewegungen

hohe Genuss­dichte

Spannung evtl. zu gering für Orgasmus

WM wellenförmig

„Doppelte Schaukel“ (Becken + Schultern)

verbindet Erregung & Emotion, koitalfreundlich

Lern­aufwand deutlich höher

Wer seine gewohnten Modi erkennt, kann bewusst Alternativen einüben.



4 Lust ist lernbar: Sexodynamik in Aktion


Sexuelle Lust entsteht, wenn körperliche Erregung diffundiert (sich über den ganzen Körper ausbreitet), kanalisiert wird (gezielte Spannung in den Genitalien) und wir unten wie oben loslassen können. Dann kippen wir vom Reflex in das bewusste Erleben – ein Prozess, der emotionale Tiefe erfordert. 


Desjardins unterscheidet drei Formen des Begehrens: emotional motiviert, sexuell motiviert und koital sexuell. Letzteres setzt beim Mann* eine „phallische Erotisierung“, bei Menschen* mit Vulva eine „Erotisierung der Vagina“ voraus. Genau hier wird deutlich, wie sehr das Original noch in einer binär-hetero­normativer Logik verhaftet ist. 




5 Meine Einschätzung: Goldene Bausteine & blinde Flecken


Ich arbeite seit drei Jahren mit dem Modell Sexocorporel – und ja, das Modell hat grosses Potenzial. Die präzisen Körper­übungen zu Atmung, Raum, Rhythmus und Amplitude helfen Klient*innen, aus Kopf­karussells auszusteigen und Lust leiblich zu verankern. Gleichzeitig bleibt der Ansatz ein Kind seiner Zeit. Schon in den 70ern hetero­normativ, wirkt er 2025 in Teilen regel­recht museal:


  • Penetrations­fixierung: Alles kulminiert im Koitus als „Königs­disziplin“.

  • Binäre Geschlechter­vorstellung: „Menschen mit Vulva = Frauen = rezeptiv“ liest sich wie ein Ratgeber aus den 50ern.

  • Archetypische Zuschreibungen statt diverser Lebens­realitäten.



Viele Institute (z. B. das ZISS Zürich oder das ifes ) haben das bereits weiter­entwickelt. Das isp-Zürich, an dem ich studiere, lehrt jedoch eine orthodoxe Version nach Desjardins – mit dem Argument, man müsse das „Original“ erst kennen, um es kritisieren zu können. Nach drei Jahren im Curriculum kann ich sagen: Meine Kritikpunkte bestehen seit Beginn und bleiben weiterhin bestehen.



7 Praktische Impulse für deinen Alltag


  • Experimentiere mit der „doppelten Schaukel“: Lege dich auf den Rücken, bewege Becken und Schultern in gegenläufigen Wellen. Spüre, wie sich Spannung aufbaut, diffundiert und wieder zentriert.

  • Atem + Ton: Atme lautlos ein, seufze hörbar aus. Ton öffnet den Brust­raum und senkt Muskel­rigidität.

  • Tempo-Variationen: Gönne dir beim Solosex eine Minute Super­slow; beobachte, wie Fein­empfindungen aufpoppen.

  • Begehrens­landkarte: Notiere fünf Körper­zonen, die jenseits von Genitalien Lust auslösen. Baue sie in dein Liebes­spiel ein.


Solche Übungen zeigen, dass körper­orientierte Sexual­bildung nicht kompliziert sein muss – wohl aber embodied: Sie lebt davon, dass wir fühlen, statt bloss zu verstehen.



8 Weiterlesen & Weiterfühlen


  • Sztenc, M. (2020). Klappt’s? Vom Leistungssex zum Liebesspiel - ein Übungsbuch für Männer (2. Auflage). S. Hirzel Verlag.

  • Sztenc, M. (2020). Embodimentorientierte Sexualtherapie: Grundlagen und Anwendung des Sexocorporel. Schattauer Verlag (Klett).

  • ZISS (Hrsg.), Grundlagen des Sexocorporel. Ein Modell für die körper­orientierte Sexual­beratung und sexuelle Bildung (PDF)

  • Stumpe, H., & Voß, H.-J. (Hrsg.). (2024). Grundlagen des Sexocorporel: Ein Modell für die körperorientierte Sexualberatung und sexuelle Bildung (Originalausgabe). Psychosozial-Verlag.



9 Fazit


Der Sexocorporel erinnert uns daran, dass Sex zuerst eine leibliche Erfahrung ist – mit Reflexen, Spannungs­bögen und Emotionen, die wir gestalten können. Doch jedes Modell altert. Wenn wir die goldenen Bausteine (Körper, Atmung, Raum) mit aktueller Gender-, Diversity- und Consent-Forschung verschmelzen, wird aus einem guten Konzept ein zukunfts­fähiges Werkzeug. Lasst uns gemeinsam daran bauen – für Liebes­spiele, die nicht nur klappen, sondern Körper* und Köpfe* gleichermassen feiern.



Keywords: Sexocorporel, Embodiment­orientierte Sexual­therapie, körper­orientierte Sexual­beratung, Leistungssex, Liebesspiel, Michael Sztenc, Jean-Yves Desjardins, Erregungs­modi, sexuelle Lust, Körper­arbeit

 
 
 

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