Das Modell Sexocorporel: Wie ein körperorientiertes Sexualmodell Lust neu begreift – und warum wir es im 21. Jahrhundert weiterdenken müssen
- jannikboehm
- 6. Aug.
- 4 Min. Lesezeit
1 Vom Kopf in den Körper: Eine Einladung zum Sexocorporel
Leistungsdruck, Orgasmus‐Checklisten und „perfekte“ Techniken – all das hat Sexualität in vielen Köpfen zu einem Projekt gemacht, das man erreichen muss. Der Sexocorporel dreht den Spiess um: Er rückt den Erlebensraum Körper ins Zentrum – mit seiner Atmung, seiner Muskelspannung, seinem Rhythmus. Statt zu fragen „Funktioniere ich richtig?“ lädt das Modell dazu ein, wahrzunehmen „Wie fühlt sich meine Erregung gerade an, wo im Körper bewegt sie sich, was braucht sie?“
Damit öffnet der Sexocorporel einen klaren Lernweg: Wer Erregung nicht nur aushält, sondern sie über bewusste Bewegung, Tonus-Regulation und sinnliche Aufmerksamkeit steuern kann, erlebt Lust intensiver und vielfältiger. Das ist kein esoterischer Zauber, sondern ein körperpsychologisches Handwerkszeug, das Prof. Jean-Yves Desjardins in den 1970er-Jahren aus klinischer Beobachtung entwickelte und das bis heute konsequent weitergeforscht wird.
Der Sexocorporel verlegt das Spielfeld von der Bettkante zurück unter die Haut – dorthin, wo Lust tatsächlich entsteht.
2 Die Grundidee: Hirn–Körper als untrennbare Einheit
Begründer Jean-Yves Desjardins stellte schon in den 1970ern klar, dass Psyche und Körper zwei Seiten derselben Medaille sind. Anstatt Sexualprobleme primär als Spiegel „tiefer Konflikte“ zu pathologisieren, untersucht der Sexocorporel die direkten körperlichen Lernschritte, die Lust ermöglichen oder blockieren. Er gliedert die Sexualität dafür in vier miteinander verwobene Bereiche:
Physiologische Komponenten (z. B. Erregungsfunktion, Sinnesempfindungen)
Sexodynamische Komponenten (Lustfunktion, sexuelles Begehren, Gefühl der Geschlechtszugehörigkeit)
Kognitive Komponenten (Wissen, Normen, Werte)
Beziehungskomponenten (Verführung, Kommunikation, Bindung)
Dieses Raster liefert Therapeut*innen ein klares Diagnostikinstrument, ohne Menschen in „normal“ und „gestört“ einzuteilen. Grenzen gelten hier nicht als Mangel, sondern als Startpunkt neuer sexueller Lernwege.
3 Erregungsfunktion: Spielraum statt Punktlandung
Kern des Modells ist die Erregungsfunktion – ein Zusammenspiel aus reflexhaften Körperprozessen und bewusst erlernbaren Fähigkeiten wie Atmung, Muskeltonus oder Bewegung. Zwischen Erregungsbeginn und Orgasmus liegt ein „bewohnbarer Raum“, in dem wir Spannung dosieren und Lust steigern können.
Desjardins beschreibt fünf typische Erregungsmodi:
Modus | Typische Strategie | Chancen | Grenzen |
AM archaisch | Pressen/Drücken (z. B. Schenkelpressen) | schnelle Entladung | wenig Lustvielfalt, Schmerzen möglich |
MM mechanisch | Reiben mit hohem Rhythmus | kontrollierbar | Muskelstarre, Koitus oft unbefriedigend |
AMM archaisch-mechanisch | Druck + Reibung (z. B. Vibrator) | intensive Stimulation | ähnl. Grenzen wie AM |
OM ondulierend | fliessende Ganzkörperbewegungen | hohe Genussdichte | Spannung evtl. zu gering für Orgasmus |
WM wellenförmig | „Doppelte Schaukel“ (Becken + Schultern) | verbindet Erregung & Emotion, koitalfreundlich | Lernaufwand deutlich höher |
Wer seine gewohnten Modi erkennt, kann bewusst Alternativen einüben.
4 Lust ist lernbar: Sexodynamik in Aktion
Sexuelle Lust entsteht, wenn körperliche Erregung diffundiert (sich über den ganzen Körper ausbreitet), kanalisiert wird (gezielte Spannung in den Genitalien) und wir unten wie oben loslassen können. Dann kippen wir vom Reflex in das bewusste Erleben – ein Prozess, der emotionale Tiefe erfordert.
Desjardins unterscheidet drei Formen des Begehrens: emotional motiviert, sexuell motiviert und koital sexuell. Letzteres setzt beim Mann* eine „phallische Erotisierung“, bei Menschen* mit Vulva eine „Erotisierung der Vagina“ voraus. Genau hier wird deutlich, wie sehr das Original noch in einer binär-heteronormativer Logik verhaftet ist.
5 Meine Einschätzung: Goldene Bausteine & blinde Flecken
Ich arbeite seit drei Jahren mit dem Modell Sexocorporel – und ja, das Modell hat grosses Potenzial. Die präzisen Körperübungen zu Atmung, Raum, Rhythmus und Amplitude helfen Klient*innen, aus Kopfkarussells auszusteigen und Lust leiblich zu verankern. Gleichzeitig bleibt der Ansatz ein Kind seiner Zeit. Schon in den 70ern heteronormativ, wirkt er 2025 in Teilen regelrecht museal:
Penetrationsfixierung: Alles kulminiert im Koitus als „Königsdisziplin“.
Binäre Geschlechtervorstellung: „Menschen mit Vulva = Frauen = rezeptiv“ liest sich wie ein Ratgeber aus den 50ern.
Archetypische Zuschreibungen statt diverser Lebensrealitäten.
Viele Institute (z. B. das ZISS Zürich oder das ifes ) haben das bereits weiterentwickelt. Das isp-Zürich, an dem ich studiere, lehrt jedoch eine orthodoxe Version nach Desjardins – mit dem Argument, man müsse das „Original“ erst kennen, um es kritisieren zu können. Nach drei Jahren im Curriculum kann ich sagen: Meine Kritikpunkte bestehen seit Beginn und bleiben weiterhin bestehen.
7 Praktische Impulse für deinen Alltag
Experimentiere mit der „doppelten Schaukel“: Lege dich auf den Rücken, bewege Becken und Schultern in gegenläufigen Wellen. Spüre, wie sich Spannung aufbaut, diffundiert und wieder zentriert.
Atem + Ton: Atme lautlos ein, seufze hörbar aus. Ton öffnet den Brustraum und senkt Muskelrigidität.
Tempo-Variationen: Gönne dir beim Solosex eine Minute Superslow; beobachte, wie Feinempfindungen aufpoppen.
Begehrenslandkarte: Notiere fünf Körperzonen, die jenseits von Genitalien Lust auslösen. Baue sie in dein Liebesspiel ein.
Solche Übungen zeigen, dass körperorientierte Sexualbildung nicht kompliziert sein muss – wohl aber embodied: Sie lebt davon, dass wir fühlen, statt bloss zu verstehen.
8 Weiterlesen & Weiterfühlen
Sztenc, M. (2020). Klappt’s? Vom Leistungssex zum Liebesspiel - ein Übungsbuch für Männer (2. Auflage). S. Hirzel Verlag.
Sztenc, M. (2020). Embodimentorientierte Sexualtherapie: Grundlagen und Anwendung des Sexocorporel. Schattauer Verlag (Klett).
ZISS (Hrsg.), Grundlagen des Sexocorporel. Ein Modell für die körperorientierte Sexualberatung und sexuelle Bildung (PDF)
Stumpe, H., & Voß, H.-J. (Hrsg.). (2024). Grundlagen des Sexocorporel: Ein Modell für die körperorientierte Sexualberatung und sexuelle Bildung (Originalausgabe). Psychosozial-Verlag.
9 Fazit
Der Sexocorporel erinnert uns daran, dass Sex zuerst eine leibliche Erfahrung ist – mit Reflexen, Spannungsbögen und Emotionen, die wir gestalten können. Doch jedes Modell altert. Wenn wir die goldenen Bausteine (Körper, Atmung, Raum) mit aktueller Gender-, Diversity- und Consent-Forschung verschmelzen, wird aus einem guten Konzept ein zukunftsfähiges Werkzeug. Lasst uns gemeinsam daran bauen – für Liebesspiele, die nicht nur klappen, sondern Körper* und Köpfe* gleichermassen feiern.
Keywords: Sexocorporel, Embodimentorientierte Sexualtherapie, körperorientierte Sexualberatung, Leistungssex, Liebesspiel, Michael Sztenc, Jean-Yves Desjardins, Erregungsmodi, sexuelle Lust, Körperarbeit




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